Impuls vom 10.10.2025

Dilexi te

103. Ich habe an diese zweitausendjährige Geschichte kirchlicher Aufmerksamkeit für die Armen und inmitten der Armen erinnern wollen, um zu zeigen, dass sie wesentlicher Bestandteil des ununterbrochenen Weges der Kirche ist. Die Sorge für die Armen ist Teil der großen Tradition der Kirche, wie ein Leuchtfeuer, das von den Anfängen des Evangeliums an die Herzen und die Schritte der Christen aller Zeiten erhellt hat. Daher müssen wir die Dringlichkeit verspüren, alle einzuladen, sich in diesen Strom an Licht und Leben zu begeben, der daraus hervorgeht, dass man Christus im Antlitz der Bedürftigen und Leidenden erkennt. Die Liebe zu den Armen ist ein wesentliches Element der Geschichte Gottes mit uns und sie entströmt dem Herzen der Kirche als ein fortwährender Aufruf an die Herzen der einzelnen Gläubigen wie auch ihrer Gemeinschaften. Als Leib Christi empfindet die Kirche das Leben der Armen, die ein privilegierter Teil des pilgernden Volkes sind, als ihr eigen „Fleisch“. Deshalb ist die Liebe zu den Armen – in welcher Form auch immer sich diese Armut zeigt – die evangeliumsgemäße Garantie für eine Kirche, die dem Herzen Gottes treu ist. Jede kirchliche Erneuerung hat denn auch immer diese vorrangige Aufmerksamkeit für die Armen, die sich sowohl in ihren Beweggründen als auch in ihrem Stil von der Tätigkeit jeder anderen humanitären Organisation unterscheidet, zu ihren Prioritäten gezählt.

104. Christen dürfen die Armen nicht bloß als soziales Problem betrachten: Sie sind eine „Familienangelegenheit“. Sie gehören „zu den Unsrigen“. Die Beziehung zu ihnen darf nicht auf eine Tätigkeit oder eine amtliche Verpflichtung der Kirche reduziert werden. Wie die Versammlung von Aparecida lehrt, »ist von uns [gefordert], dass wir den Armen Zeit widmen, uns ihnen liebevoll zuwenden, ihnen aufmerksam zuhören und ihnen in schwierigsten Momenten beistehen. So entscheiden wir uns für sie und teilen mit ihnen Stunden, Wochen oder auch Jahre unseres Lebens und suchen zusammen mit ihnen ihre Lage zu ändern. Wir dürfen nicht vergessen, dass uns Jesus selbst durch sein Tun und Reden ein Beispiel dafür ist.«

105. Die vorherrschende Kultur zu Beginn dieses Jahrtausends neigt stark dazu, die Armen ihrem Schicksal zu überlassen, sie nicht für beachtenswert und noch weniger für schätzenswert zu halten. In der Enzyklika Fratelli tutti hat Papst Franziskus uns aufgefordert, über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25-37) nachzudenken, um genau diesen Aspekt zu vertiefen. In dem Gleichnis sehen wir nämlich, dass diejenigen, die an jenem verwundeten und am Straßenrand liegenden Mann vorbeikommen, unterschiedliche Haltungen an den Tag legen. Nur der barmherzige Samariter nimmt sich seiner an. So stellt sich wieder die Frage, die jeden persönlich betrifft: »Mit wem identifizierst du dich? Diese Frage ist hart, direkt und entscheidend. Welchem von ihnen ähnelst du? Wir müssen die uns umgebende Versuchung erkennen, die anderen nicht zu beachten, besonders die Schwächsten. Sagen wir es so, in vieler Hinsicht haben wir Fortschritte gemacht, doch wir sind Analphabeten, wenn es darum geht, die Gebrechlichsten und Schwächsten unserer entwickelten Gesellschaften zu begleiten, zu pflegen und zu unterstützen. Wir haben uns angewöhnt wegzuschauen, vorbeizugehen, die Situationen zu ignorieren, solange uns diese nicht direkt betreffen.«

106. Und es tut uns sehr gut zu entdecken, dass sich jene Szene des barmherzigen Samariters auch heute wiederholt. Erinnern wir uns an eine Situation aus unserer Zeit: »Wenn ich einem Menschen begegne, der in einer kalten Nacht unter freiem Himmel schläft, kann ich fühlen, dass dieser arme Wicht etwas Unvorhergesehenes ist, das mir dazwischenkommt, ein Nichtsnutz und Gauner, ein Störenfried auf meinem Weg, ein lästiger Stachel für mein Gewissen, ein Problem, das die Politiker lösen müssen, und vielleicht sogar ein Abfall, der den öffentlichen Bereich verschmutzt. Oder ich kann aus dem Glauben und der Liebe heraus reagieren und in ihm ein menschliches Wesen erkennen, mit gleicher Würde wie ich, ein vom Vater unendlich geliebtes Geschöpf, ein Abbild Gottes, ein von Jesus Christus erlöster Bruder oder Schwester. Das heißt es, Christ zu sein! Oder kann man etwa die Heiligkeit abseits dieses konkreten Anerkennens der Würde jedes menschlichen Wesens verstehen?« Was hat der barmherzige Samariter getan?

107. Diese Frage ist von großer Bedeutung, da sie uns hilft, einen schwerwiegenden Mangel in unseren Gesellschaften und auch in unseren christlichen Gemeinschaften zu erkennen. Es geht darum, dass viele Formen der Gleichgültigkeit, denen wir heute begegnen, »Zeichen eines verbreiteten Lebensstils [sind], der sich auf verschiedene, vielleicht auch subtilere Weisen zeigt. Da wir alle zudem sehr auf unsere eigenen Bedürfnisse bezogen sind, ist es uns lästig, jemanden leiden zu sehen; es stört uns, weil wir keine Zeit wegen der Probleme anderer verlieren wollen. Dies sind Symptome einer kranken Gesellschaft, die versucht, in ihrem Leben dem Schmerz den Rücken zuzukehren. Besser ist es, nicht in dieses Elend zu verfallen. Betrachten wir das Modell des barmherzigen Samariters.« Die Schlussworte des Gleichnisses aus dem Evangelium – »Dann geh und handle du genauso« ( Lk 10,37) – sind ein Gebot, das ein Christ jeden Tag in seinem Herzen verspüren muss.

(APOSTOLISCHE EXHORTATION DILEXI TE DES HEILIGEN VATERS LEO XIV. ÜBER DIE LIEBE ZU DEN ARMEN)