Impuls vom 14.07.2023

Wie entlaubte Bäume in spätmoderner Landschaft

Schlimmer kann es für die katholische Kirche in Deutschland kaum kommen. Mehr als eine halbe Million Katholiken sind im Jahr 2022 ausgetreten. Die Empörung über sexuellen Missbrauch durch Kleriker und die Vertuschung durch Bischöfe sind religionssoziologisch der stärkste Austrittsfaktor. Hinzu kommen Säkularisierungsschübe und eine schon länger schwelende Glaubenskrise.
Die Schere zwischen kirchlicher Verkündigung und heutiger Wissensgesellschaft ist größer geworden. Begriffe wie Schöpfung, Sünde, Gnade oder Erlösung haben ihre orientierende Kraft eingebüßt, obwohl die Herzen leer und die Sehnsucht nach Sinn groß ist.
Viele haben sich in einem Rahmen der Immanenz eingerichtet und leben, als ob es Gott nicht gäbe. Schließlich kommen finanzielle Gründe hinzu. Warum soll man, wenn das Leben teurer wird, noch Kirchensteuer zahlen und Entschädigungssummen mitbegleichen, für die man keine Verantwortung trägt?
Wie aber lässt sich theologisch auf diese epochale Dämmerung reagieren?

Mensch unter Menschen

Die Kirchen und Kathedralen in unseren Städten sind die Grabmäler Gottes, meinte schon Nietzsche, der den Tod Gottes proklamiert hat. Zugleich hatte er eine wache Witterung dafür, dass mit dieser Toterklärung Verluste verbunden sind, die den Menschen metaphysisch obdachlos zurücklassen. Vor allem spricht Nietzsche einen weiteren Verdacht aus: die Gläubigen selbst könnten ihn getötet haben. Was, wenn sie die Mörder sind, die durch ihr Gegenzeugnis Gott aus der Welt herausgedrängt haben?
In den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils gibt es einen Passus, der das Motiv des Todes Gottes aufgreift und es auf das Geschehen von Golgatha bezieht. Das Geschick des armen und verfolgten Jesus wird mit dem Los der Kirche zusammengebunden. Kenosis, so lautet das griechische Wort für Verzicht und Entleerung, das hier unter Rückgriff auf Paulus eingespielt wird. Der souveräne Gott hat in seinem Sohn den Schmutz der Geschichte aufgesucht, die Conditio humana geteilt und sich der blutigen Realität bis zum Tod am Kreuz gestellt.
Christus klammert sich nicht an seine „Gottesgestalt“ und die damit verbundenen Privilegien, sondern nimmt „Knechtsgestalt“ an, er wird Mensch unter Menschen. Das Vorzeichen von Verzicht und Entäußerung soll auch das Engagement der Kirche in der Welt bestimmen. Zugleich markiert der Konzilstext eine Differenz, welche die Kirche vor Triumphalismus und Heilsarroganz bewahren kann: Während Christus heilig und ohne Sünde ist, umfasst die Gemeinschaft der Kirche Mitglieder, die Heiligkeit nur simulieren, aber in Wahrheit korrupt und sündig sind. Kirche ist Corpus permixtum, eine durchwachsene Angelegenheit von Heiligen und Sündern. Der Einbruch skandalöser Verbrechen in den Raum des Heiligen trifft die Kirche ins Mark und macht sie therapiebedürftig.
Wo sich die Kirche dem Gekreuzigten stellt, wird sie der Wahrheit ihrer Schuld nicht ausweichen können. Vor dem Gekreuzigten endet jede Banalisierung des Bösen. Der Täterschutz wird als strukturelle Sünde offenbar, die Missachtung der Opfer rückt als Verrat Christi in den Blick, der sich mit den Entrechteten identifiziert hat.
Die Kultur der Memoria passionis stößt so einen Umgang mit Schuld und Leiden an, der nicht beschönigt und zugleich aus der Spirale der Bezichtigung herausführt. Der Täter, der sich seiner Schuld stellt, Reue zeigt und Akte der Wiedergutmachung setzen will, wird nicht auf seine Untaten festgelegt. Ihm werden Räume für einen Neuanfang gewährt. Auch das ist eine Provokation des Evangeliums: die Begnadigung des Sünders, die Stigmatisierung beendet.

Der große Abwesende

Die katholische Kirche hat immer wieder den Prunk der Paläste den staubigen Straßen vorgezogen, sie hat ihre zum Himmel schreienden Taten verschleiert, um ihren Ruf zu schützen und sich Privilegien zu sichern. In ihrem ekklesiologischen Narzissmus und ihrer Sorge um Machtsicherung hat sie Opfer verraten und dabei Christus, den Gekreuzigten, vergessen.
Er ist auch in vielen Reformdiskursen der große Abwesende. Die sterbenden Kirchen, die wie entlaubte Bäume in der spätmodernen Landschaft stehen, werden aber zu neuem Leben erst finden, wenn sie sich auf ihre Mitte rückbesinnen und die Lektion der Selbstbescheidung lernen. Erst, wo gestutzt wird, können neue Triebe wachsen.
Dabei verliert auch die Gesellschaft, wenn die Kirche erodiert: Der Bildungsauftrag, der in Kindergärten und Schulen in kirchlicher Trägerschaft umgesetzt wird; das geschärfte Sensorium für Arme, Kranke und Alte, das in den Institutionen der Caritas, in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen seinen Ausdruck findet; das Eintreten für die Unantastbarkeit der Menschenwürde vom Lebensanfang bis zum Ende, die in säkularen Gesellschaften bioethisch, juristisch und politisch zunehmend aufgeweicht wird; das Wachhalten eines vertikalen Horizontes, ohne den der Blick auf die beschleunigten Lebenswelten flach zu werden droht.

Verloren gehende Impulse

Nun lässt sich einwenden, dass auch ohne die Kirche christliche Sinngehalte weiter tradiert werden. In Museen hängen Bilder, die im Imaginationsraum des Christentums entstanden sind und biblische Geschichten augenfällig machen. In den Konzertsälen werden Kompositionen aufgeführt, die – wie Bachs Weihnachtsoratorium, Passionen und Kantaten – auf den liturgischen Kalender verweisen.
Gewiss, Kunst und Musik bringen auch religiös Unmusikalische mit christlichen Sinngehalten in Berührung, doch die Kirche ersetzen können sie nicht. Diese memoriert täglich die Heilige Schrift und feiert in rituellen Zeichen die verborgene Gegenwart Gottes. Sie empfängt daraus Anstöße für eine Praxis, die sich dem jesuanischen Ethos verpflichtet weiß. Ob zivilgesellschaftliche Akteure auffangen können, was mit der Kirchenschmelze an diakonischen, kulturellen und lebensorientierenden Impulsen verloren geht, steht dahin.

Kultur der Vergebung

Dabei wäre es falsch, die Bedeutung der Kirche auf ihren gesellschaftlichen Nutzen zu beschränken. Sie gewinnt ihre Strahlkraft durch die Rückbindung an die biblische Erinnerungskultur. Indem sie das Evangelium verkündet und das Geheimnis von Kreuz und Auferstehung feiert, bleibt sie sensibel für die Leidenden und öffnet einen Hoffnungshorizont, der unser Leben überragt.
Auch wenn die Austrittswelle anhält und Kirche zu einer qualifizierten Minderheit wird, bleibt ihre Präsenz wichtig: Dem mitleidlosen Umgang mit Modernisierungsverlierern stellt sie ihr Eintreten für Schwache entgegen. Dem verbreiteten Bezichtigungsfuror, andere auf ihre Fehler zu fixieren, begegnet sie durch eine Kultur der Vergebung. Die Humanität ist bedroht, wo Gnade fehlt und Menschen auf ihre Leistungen reduziert werden. Die soziale Temperatur in der Gesellschaft könnte ohne die Kirche kälter werden.

Jan-Heiner Tück
in: Die Presse, 09.07.2023