Impuls vom 25.09.2023

Baustellen, wohin man sieht

Herbst-Vollversammlung in Wiesbaden-Naurod: Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, im Eröffnungsgottesdienst

Liebe Geschwister im Glauben!

Baustellen, wohin man sieht. Und das im konkreten wie im übertragenen Sinn. Weil das Priesterseminar in Fulda – angestammter Ort der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz – vor einer großen Umbaumaßnahme steht, tagt die Konferenz in diesem Jahr in Wiesbaden. Der heilige Bonifatius begleitet uns auch hier mit seiner Fürsprache und seinem Segen, denn auch die katholische Stadtkirche der Hessischen Landeshauptstadt trägt sein Patrozinium. Aber auch hier ist zurzeit Großbaustelle. Zuletzt wurde die Mitte des 19. Jahrhunderts geweihte Kirche im Jahr 1965 grundlegend renoviert und neu gestaltet. Das war unmittelbar nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ein wenig symbolträchtig ist es schon, dass die nächste große Instandsetzungsmaßnahme gerade in unsere Zeit fällt, in der viele den Eindruck haben, auch die Kirche insgesamt befinde sich in der Phase grundlegender Umbrüche und bedürfe angesichts massiver Krisenphänomene einer ernsthaften Instandsetzung und Erneuerung, um als Werkzeug dem Dienst am Reich Gottes wieder besser gerecht zu werden. In wenigen Tagen tritt in Rom die Weltsynode in eine weitere Phase, und dabei geht es ja offensichtlich auch um die Frage, auf welche Weise sich die katholische Kirche unserer Zeit gemäß auf diesen Weg der Erneuerung begeben kann.

Die Bonifatiuskirche hier in Wiesbaden ist also gerade kein schön herausgeputzter Raum. Fast schon düster kommt sie einem vor, durch den Gebrauch und die Ablagerungen aus Jahrzehnten trübe geworden. Die veralteten Leuchtmittel können kaum noch etwas ausrichten; jedenfalls leisten sie nicht das, was Jesus mit seinem Vergleich im Evangelium im Sinn hat. Aber die Menschen, die sich hier Tag für Tag zum Gottesdienst versammeln oder zum stillen Gebet kommen, zeigen gemeinsam mit den Verantwortlichen der Kirchengemeinde und des Bistums den Willen, es nicht dabei zu belassen, sondern anzupacken und ein Großprojekt zu stemmen, um diesem Gotteshaus seine würdige Gestalt zurückzugeben. „Großbaustelle für die Bischofskonferenz in Wiesbaden“, der Titel eines Artikels der Allgemeinen Zeitung hier vor Ort (9. September 2023) ist also im doppelten Sinn zutreffend; die wichtigen inhaltlichen Arbeitspakete für die kommenden Tage konnte ich heute Nachmittag bereits bei der Pressekonferenz vorstellen.

Die Lesung aus dem Buch Esra erscheint mir in diesem Zusammenhang wie ein Aufruf zur Beteiligung an einem Großbauprojekt. Zugleich mit der Erlaubnis zur Heimkehr gestattet der Perserkönig Kyros (Regierungszeit 559–530 v. Chr.) die Wiedererrichtung eines jüdischen Zentralheiligtums in Jerusalem. Für das kleine zerstreute Gottesvolk ist das wahrhaftig das Signal einer Zeitenwende und der Beweis für das unleugbare Eingreifen Gottes. Historisch betrachtet waren Ausmaß und Ende des babylonischen Exils vermutlich weniger eindrucksvoll, als es die biblische Geschichtsschreibung vermuten lässt. Der Großteil der Bevölkerung war nicht deportiert worden, aber die Oberschicht fristete „an den Strömen Babels“ für mehrere Generationen ein Dasein, das sich im Nachhinein als unglaublich glaubens- und theologieproduktiv erwiesen hat. Denn in der Auseinandersetzung mit den Kulten und Kulturen der heidnischen Welt konnte das eigene Gottesbild reflektiert und präzisiert und die religiöse Praxis gereinigt und auf das Wesentliche hin vertieft werden. Woher aber kam der Impuls zur Erneuerung, zur Reorganisation, zur Heimkehr und zum Tempelbau? Sie gingen wohl nicht von der Menge der im Land verbliebenen Bevölkerung aus, sondern eher von Teilen der Bildungsschicht, die im Exil im Zweistromland lebten. Erneuerung brauchte hier die Eliten. Und der Hoffnungsimpuls kam ganz von außen, von einem heidnischen König, den sich der Herr als sein Werkzeug erwählte. Ihm, dem einzigen, wahren und souverän handelnden Gott, kommt die eigentliche Triebkraft der Befreiung zu. Anders können die Gottesfürchtigen gar nicht deuten, was sie hier als historischen Einschnitt in ihrer Geschichte erleben. Und so erbauten die Judäer um das Jahr 515 den zerstörten Jerusalemer Tempel wieder auf. Die Geschichtsschreibung weiß zu berichten, dass auch wohlgesonnene nichtjüdische Nachbarn sich daran beteiligten. Mit allen künftigen Erweiterungen und Umbauten blieb dieser „Zweite Tempel“ bis zu seiner Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. durch römische Truppen das Haupt¬heiligtum der Judäer.

Geschichtliche Ereignisse als Triebkräfte, eine Minderheitensituati¬on und eine durch Krisen hindurch gereifte Gottes- und Welterkenntnis, das Engagement von Eliten und die breite Unterstützung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, der innerste Impuls durch Gottes heilsgeschichtliches Handeln: Wenn ich es bedenke, so erkenne ich im heutigen kirchlichen Reform- und Erneuerungsauftrag alle diese Faktoren wieder. Es würde sich lohnen, sie zu entfalten; aber dazu reicht die Zeit einer Predigt nicht aus. Jedenfalls macht mich die gläubige Geschichtsbetrachtung, wie sie uns die Lesung heute beispielhaft präsentiert, gelassen und einsichtig, dass solche Prozesse nie ohne Konflikte laufen können; nicht im gläubigen Gottesvolk, nicht unter Expertinnen und Theologen und auch nicht unter Bischöfen.

Ein entscheidendes Detail bei der Wiedererrichtung des Tempels scheint mir besonders erwähnenswert. Nicht nur, dass der Wiederaufbau in einer viel schlichteren Form geschah; im Allerheiligsten des neuen Tempels stand kein Kerubenthron mehr. Das Allerheiligste des Tempels blieb von nun an völlig leer. Dies ist wohl das größte äußere Zeichen der inneren Glaubens- und Lehrentwicklung, die sich aus der Not des Exils heraus vollzogen hatte. Es ließe sich unter verschiedenen Aspekten auslegen und deuten.

Ohne diese „Leerstelle“ im Zentrum des jüdischen Glaubens wäre der Kerngedanke des christlichen Gottesglaubens, nämlich sein inkarnatorischer Charakter, nicht denkbar. Denn mit der Menschwerdung seines Sohnes Jesus Christus durften wir lernen: Gottes Heiligtum ist menschlich. Der Mensch Jesus Christus ist Gottes Heiligtum für uns und mitten unter uns. Und alle, die sich gläubig zu ihm bekennen, erbaut der Geist des Herrn zum Tempel seiner Gegenwart inmitten dieser Welt. Ja, letztlich lernen wir die Überzeugung auszusprechen und tatkräftig umzusetzen: Jeder Mensch ist Gottes Heiligtum. Das begründet seine Einzigartigkeit und seine unverletzliche Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Und als Christen ergänzen wir: Denn jeder Mensch ist Gottes Heiligtum in dieser Welt.

Darum melden wir uns in den Debatten um eine staatliche Gesetzgebung zum assistierten Suizid und um eine geplante Änderung der gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. Und wir fordern in beiden Fällen eine ausgeglichene Balance zwischen der Selbstbestimmung und dem Lebensschutz, die beide durch unsere Verfassung der gesellschaftlichen Sorge überantwortet sind. Ungeborene Kinder im Mutterleib brauchen eine starke Lobby; es sind keine „Substanzen menschlichen Ursprungs“, wie eine geplante EU-Verordnung vereinnahmend meint. Aber genauso brauchen Frauen im Schwangerschaftskonflikt und ihre Familien alle nur denkbare Unterstützung durch Beratung und konkrete Hilfen.

Menschen am Ende des Lebens dürfen nicht aus wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ideologischen Gründen unter Druck geraten, ihrem Leben ein Ende zu setzen; stattdessen muss die nötige Gesetzgebung Schutzräume des Lebens ermöglichen und Palliativmedizin, Hospizarbeit und Suizidprävention deutlicher unterstützen.

Jeder Mensch ist vom ersten bis zum letzten Augenblick in seiner Würde unantastbar, keine Verfügungsmasse von irgendwem oder irgendwas, denn jeder Mensch ist Gottes Heiligtum. Das gilt ebenso für die Menschen, die aus Not und Angst um ihr Leben an den Grenzen der Europäischen Union stranden – wenn sie es überhaupt auf all den gefährlichen Wegen bis dahin schaffen – und um Asyl bitten. Asylrecht ist ein individuelles Recht. Und gleichzeitig sind die Möglichkeiten der Aufnahme auch in unserem Land begrenzt. Die Sorgen von Menschen hierzulande müssen ernst genommen werden; aber das Recht auf Asyl muss unangetastet bleiben. Darum erwarten wir so dringlich eine Reform des europäischen Asylrechts, die in vieler Hinsicht Ausgleich schafft; die vielfältigen Fluchtursachen zu bekämpfen, ist nur die andere Seite dieser Medaille.

Jeder Mensch – Gottes Heiligtum. Diese so grundlegende Einsicht muss aber auch in unserer Kirche selbst stärkere Resonanz finden. Die Verpflichtung zu Betroffenenorientierung und Missbrauchsaufarbeitung gründet unmittelbar darin sowie der stärker werdende Ruf nach echter Geschlechtergerechtigkeit und Beteiligung auf allen Ebenen und in allen Entscheidungsprozessen. Wir können nicht nach außen fordern und fördern, was innerhalb der Kirche selbst so wenig konkret gelebt wird; das schwächt die kritische Kraft des Evangeliums und macht uns unglaubwürdig. Diese Bewegung, für die nicht nur der Synodale Weg in unserem Land steht, sondern deutliche Voten aus vielen Teilen der Weltkirche, wird sich nicht durch Alibis beruhigen lassen. Hier hat die Lehre der Kirche Dienstcharakter und wird sich verändern, wenn sie dem Evangelium Jesu Christi treu bleiben will.

Baustellen, wohin man sieht. Und das im konkreten wie im übertragenen Sinn. Wir brauchen Ideen und Ausdauer dazu. Und vor allem Mut, wie der Herr ihn uns zuspricht. Er hat ja recht: Man zündet doch nicht ein Licht an und stellt es dann unters Bett (wie gefährlich ist das auch). Das Licht gehört auf den Leuchter, dann nützt es vielen [vgl. Lk 8,16].

Lesung: Esra 1,1–6
Evangelium: Lk 8,16–18