Impuls vom 10.04.2021

Es wird die Kirche geben - aber anders

"Tomas Halik sieht die Kirche in starken Veränderungsprozessen. Dabei geht es um viel Tieferes als die
Strukturdebatten im Rahmen von Gemeindefusionen oder Vermögensverwaltung, die uns emotional
oft so sehr in Anspruch nehmen. Eine uns geläufige Gestalt von Kirche stirbt, so drastisch muss man
es sagen. Und eine neue Gestalt, die tragfähig ist, hat noch nicht Gestalt angenommen. Viele unserer
Diskussionen – auch bei uns im Bistum – gehen nicht in die Tiefe, sie bleiben bei Äußerlichkeiten
stehen. Dennoch glaube ich, dass viele unserer Gläubigen, die ehrlich hinschauen, die Dramatik der
Situation erkennen. Wir sollten nicht zu viel Energie und Kraft in die sicher notwendigen Strukturen
stecken. Vielmehr sollten wir den laufenden Prozess geistlich gestalten, indem wir an einer
überzeugenden und den Menschen zugewandten Form der Kirche arbeiten, die dem
Sendungsauftrag des Evangeliums gerecht wird. Ein derartiger Sterbe- oder Veränderungsprozess ist
nicht der Tod der Kirche. Ich bin fest von den Möglichkeiten Gottes überzeugt. Die Entwicklung von
Gläubigen zu selbst-handelnden und betenden Menschen kann ein Schritt in die richtige Richtung
sein. Und: Selbst ein ehrlicher Umgang mit den Verbrechen in der Kirche und ihrem Versagen birgt in
sich die Chance auf eine menschenfreundlichere Form und eine tiefere Geschwisterlichkeit aller
Gläubigen, ja auch mit allen Menschen. Wer leugnet, dass derartige Vorfälle irgendetwas auch mit
systemischen Fragen zu tun hat, will es wohl nicht wissen. Wenn ein Soziologe den endgültigen Tod
der Kirche in zwanzig Jahren prophezeit, wäre ich bereit, eine Wette abzuschließen, die ich gewinnen
werde. Es wird die Kirche geben, aber anders.

Was sind notwendige Kennzeichen einer neuen Form von Kirche? Da gäbe es viel zu sagen: Der
Umgang mit Macht über andere muss verändert werden, viele ersehnen zutiefst eine
geschlechtergerechte Kirche, eine Kirche, die auch denen zugewandt ist, die nicht ihrem Ideal
entsprechen, eine Kirche, die das nachahmt, was Jesus von sich sagt: „Ich will alle an mich ziehen“
(vgl. Joh 12,32) – und niemanden abstoßen. Das bedeutet keine Beliebigkeit der kirchlichen
Botschaft. Allerdings sehe ich ihre Bedeutung nicht im Verurteilen einzelner Menschen oder
Gruppen, sondern im Einsatz gerade für die Schwachen und die Menschen am Rande. Diese Themen
beschäftigen uns zu Recht. Es muss gegen alle Vorurteile gesagt werden: Es geht nicht um eine billige
Anpassung an irgendwelche Moden. Es geht um den Menschen und das Ernstnehmen des
Evangeliums. Tomas Halik beschreibt weitere Kennzeichen einer heutigen Gestalt der Kirche: Er
beschreibt einen Weg, der sich von Folklore verabschiedet und Menschen zu einem eigenständigen
Glauben, einem erwachsenen und reflektierten Glauben befähigt. Es gilt, die geistliche Dimension
anzusprechen, die viele Menschen in sich tragen; es gilt, Menschen zu begleiten und sie zu ihrem
Weg des Glaubens und der Nachfolge zu befähigen. Es gilt, noch mehr eine Kirche zu werden, die die
Zeichen der Zeit versteht und nicht wegwischt. Wir werden nicht umhinkommen, immer mehr eine
Theologie und Verkündigung zu entwickeln, die sich im Gespräch mit allen Menschen bewährt,
gerade auch mit Gebildeten und Wissenschaftlern, und die überzeugen kann. Das nimmt
selbstverständlich auch die Bischöfe in die Pflicht. Alle, die sich um die Kirche und ihren Auftrag
sorgen, müssen besser die Absicht verstehen, was es bedeutet, eine Kirche zu sein, die hinausgeht,
und die nicht nur Türen öffnet für die Menschen, die kommen. Die Pandemie ist hoffentlich für viele
Menschen eine Zeit, in der sie neu nach den Quellen suchen, oder in der sie spüren, was an ihrem
Glauben folkloristisch ist und in einer derartigen Krise nicht mehr trägt."

(Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz, in der Predigt zur Chrisammesse am 29.3.2021)